Hochsensibel, das überreizte Gehirn
Menschen, die ungewöhnlich stark auf Reize reagieren, bezeichnen Psychologen als hochsensibel. Viele Wissenschaftler bezweifeln allerdings, dass es solch eine Diagnose überhaupt gibt.
Das Konzept der Hochsensibilität geht im Wesentlichen auf die US-amerikanische Psychotherapeutin Elaine N. Aron zurück. Sie definierte in einem Fachartikel von 1997 erstmals den Begriff “Highly Sensitive Person” (HSP), und zwar auf Grundlage ihrer Forschungsarbeiten zur Sensitivität – auch sensorische Verarbeitungssensitivität (“sensory-processing sensitivity”, SPS) genannt. Darunter versteht man die Empfindsamkeit eines Menschen gegenüber äußeren und inneren Reizen. Äußere Reize sind solche, die aus der Umwelt kommen, zum Beispiel Geräusche, Licht und Temperatur. Innere Reize stammen aus dem Körper selbst und umfassen aus psychologischer Sicht neben Wahrnehmungen wie Harndrang oder starkem Herzklopfen auch Gedanken und Gefühle (Wut, Traurigkeit, Aufregung, Freude etc.).
Die Sensitivität ist bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Übergänge sind fließend, aber es lassen sich drei Kategorien unterscheiden: Menschen mit niedriger, mittlerer und hoher Sensitivität. Letztere – von Aron als “highly sensitive persons” bezeichnet – nehmen Reize intensiver wahr und verarbeiten sie möglicherweise auch anders als andere Menschen.
Das intensive Wahrnehmen und veränderte Verarbeiten von Reizen kann schnell zur Reizüberflutung führen: Der Gang durch den Supermarkt nach Feierabend, der für “normale” Menschen höchstens nervig ist, kann hypersensible Menschen an ihre Grenze bringen – oder darüber hinaus. Die vielen Menschen, Wortfetzen, Kindergeschrei, Hintergrundmusik, Lichter, Farben, Gerüche – all das kann für Hochsensible zum Horrortrip werden und sie völlig erschöpfen.
Andererseits erlaubt die Überempfindlichkeit den Betroffenen oft ein genussvolleres und intensiveres Empfinden von Schönem wie einem guten Essen, angenehmer Musik oder einer entspannenden Massage. Sie macht besonders feinfühlig, etwa was Stimmungen und Gefühle – eigene und die von Mitmenschen – betrifft. Nicht zuletzt kann sich Hypersensibilität positiv auf kreatives Schaffen auswirken.
Statt “Hochsensibilität” werden manchmal auch die Begriffe “Hypersensibilität” und “Hypersensitivität” verwendet. Letzteres meint in der Medizin allgemein eine über das Normalmaß hinausgehende Reaktion des Organismus auf bestimmte Mikroorganismen, Stoffe oder Reize. Demnach ist beispielsweise auch eine Allergie oder Intoleranz (Unverträglichkeit) eine Form von Hypersensitivität.
Bei Menschen, die hochsensibel sind, von “Symptomen” zu sprechen, ist eigentlich nicht richtig – Hochsensibilität ist ja keine Krankheit (siehe unten). Vielmehr besitzen die Betroffenen einfach besonders feine Antennen für das, was um sie herum oder in ihnen selbst vorgeht. Konkret zeichnen sich hochsensible Menschen durch Eigenschaften folgender Art aus:
Nicht jeder Sinn muss gleichermaßen stark ausgeprägt sein bei Hochsensibilität! Auf Lärm beispielsweise reagieren manche Hochsensible empfindlicher als andere.
Aufgrund ihrer Überempfindlichkeit brauchen hochsensible Menschen meist mehr Rückzugsräume und -phasen, um Eindrücke verarbeiten und sich von der Vielzahl an Reizen erholen zu können.
Hochsensibilität selbst ist, wie erwähnt, keine Krankheit, kann aber eine solche nach sich ziehen. So gibt es Hinweise, dass hochsensible Menschen anfälliger für Depressionen und Angststörungen sind. Außerdem können sie aufgrund der ständigen Über-Reiztheit somatoforme Störungen entwickeln, also körperliche Beschwerden ohne organische Ursache.
So wie der Begriff Symptome ist auch jener der Diagnose bei Hochsensibilität nicht wirklich passend, und zwar aus dem gleichen Grund (keine Krankheit oder Störung). Nichtsdestotrotz finden sich etwa in Büchern und im Internet diverse Fragebögen zur Selbstdiagnose von Hochsensibilität.
Hier ist aber Vorsicht geboten: Manche Aspekte von Hochsensibilität (wie verstärkte Wahrnehmung von Sinnesreizen, depressive Verstimmung) treten auch im Zusammenhang mit diversen psychischen Problemen auf. Bei Selbstdiagnose besteht daher Verwechslungsgefahr: Die bestehenden Auffälligkeiten werden möglicherweise als Anzeichen von Hochsensibilität – und damit als natürliches Merkmal der Persönlichkeit – abgetan, statt als Symptome einer potenziell behandlungsbedürftigen psychischen Störung erkannt.
Um Hochsensibilität psychologisch zu testen, verwenden Experten meist die HSPS-G-Skala, die “Highly Sensitivity Person-Scale for German-speaking populations”. Das ist eine übersetzte und modifizierte Skala der HSP-Scale von Aron und Aron (1997). Sie umfasst 26 Aussagen, mit der die Sensitivität für sensorische Verarbeitungsprozesse erfasst werden soll. Dazu kann jede Aussage auf einer Skala von 0 (= trifft gar nicht zu) bis 4 (= trifft völlig zu) bewertet werden.
Nein – Hochsensibilität ist definitiv keine Krankheit, auch keine psychische Störung. Es handelt sich vielmehr um eines von vielen Persönlichkeitsmerkmalen, die Menschen aufweisen können. Dieses Merkmal zeichnet sich dadurch aus, dass bei den Betroffenen infolge neurologischer Besonderheiten viel mehr Informationen ungefiltert ins Gehirn gelangen als bei “normal” sensiblen Menschen. Hochsensiblen kann es deshalb schnell “zu viel” werden – zu viel Geräusche, zu viele Menschen, zu grelles Licht, zu kratziger Pulli, zu stark gewürztes Essen.
Wer inmitten “normal” sensibler Menschen selber immer wieder durch Übersensibilität auffällt, empfindet sich schnell als “anders” – und vielleicht sogar als lästiges Sensibelchen oder Sonderling. Das eigene Selbstwertgefühl kann sehr darunter leiden.
Andererseits nehmen Hochsensible oft ungewöhnlich schnell und gut Sorgen und Ängste bei Mitmenschen oder verborgene Konflikte in einer Gruppe wahr. Sie besitzen also eine ausgeprägte Empathie und ein gutes Gespür für Schwingungen und Dinge unter der Oberfläche – viel mehr als “normale” Menschen.
Dabei darf man nicht vergessen: Hochsensibilität ist weder eine Schwäche oder ein Zeichen für mangelnde Robustheit noch eine außergewöhnliche Begabung oder Auszeichnung, die Betroffenen einen besonderen Status zwischen all den “normalen”, dickhäutigeren Menschen verleiht. Stattdessen ist sie einfach ein Persönlichkeitsmerkmal, genau gesagt eine höhere Ausprägung der allgemeinen Persönlichkeitseigenschaft Sensitivität. Und wie jede andere Ausprägung von Persönlichkeitseigenschaften kann auch die Hypersensibilität je nach Sichtweise und Situation einen Vor- oder Nachteil darstellen.
Warum manche Menschen hypersensibel sind und andere nicht, weiß die Wissenschaft noch nicht genau. Forscher vermuten, dass bei den Betroffenen eine genetische Veranlagung die reizverarbeitenden neuronalen Systeme so verändert, dass die Sensibilität erhöht ist. Darauf deuten Zwillingsstudien hin, die eine signifikante Häufung von Hochsensibilität in Familien aufzeigten.
Außerdem könnten Hirnstrukturen und Nervenzellverbände, die für die Dämpfung von Erregungspotenzialen im Gehirn zuständig sind, bei Hochsensiblen weniger stark ausgeprägt sein. Das könnte dazu führen, dass der Neokortex – jener Teil der Großhirnrinde, der an der Steuerung der Aufmerksamkeit und der Sinnesverarbeitung beteiligt ist – deutlich stärker erregt wird.
Eine Rolle bei Hochsensibilität scheint auch der Thalamus zu spielen. Dieser Teil des Zwischenhirns wird “Tor zum Bewusstsein” genannt. Als Filter einlangender Informationen entscheidet er nämlich darüber, welche äußeren und inneren Reize ins Bewusstsein dringen und welche nicht. Bei Hypersensibilität könnte er deutlich mehr Informationen als relevant einstufen und ins Bewusstsein vorlassen, als das bei Menschen mit niedriger oder mittlerer Sensitivität passiert.
Einige Forscher, die sich mit dem Thema Hochsensibilität befassen, haben zudem den Hypothalamus im Blick – einen anderen Teil des Zwischenhirns, der gewissermaßen als “Gefühlsregler” fungiert. Er könnte bei hochsensiblen Menschen in veränderter Weise arbeiten.
Darüber hinaus gehen Forscher davon aus, dass an der Entstehung von Hochsensibilität auch Umwelteinflüsse (auch kulturelle Einflüsse) beteiligt sind. Bislang ist aber nicht genau bekannt, welche Einflüsse die Sensitivität prägen.
So anstrengend und herausfordernd das Alltagsleben sein kann bei Hochsensibilität – eine Therapie brauchen die Betroffenen deswegen im Grunde nicht, schließlich ist ihre Überempfindlichkeit keine Krankheit oder Störung. Manchmal genügen folgende Tipps, um Menschen mit Hochsensibilität den Umgang mit anderen Menschen sowie mit sich selbst zu erleichtern:
Als Eltern eines hochsensiblen Kindes sollten Sie sich bei Bedarf professionellen Rat holen, zum Beispiel bei einem Erziehungsberater. Er kann Ihnen mehr über die Hintergründe und Auswirkungen von Hochsensibilität erzählen und Tipps für den Umgang mit Ihrem Kind geben.
Es kann etwa hilfreich sein, zu wissen, dass hochsensible Kinder unter negativen Umweltbedingungen stärker leiden als andere Sprösslinge – zum Beispiel unter Streitigkeiten in der Familie oder Hintergrundgeräuschen während der Hausaufgaben. Andererseits sind hochsensible Kinder auch für positive Reize besonders empfänglich, etwa kleine Geschenke oder liebevolle Umarmungen.
Begleiten psychische oder somatoforme Störungen die Hochsensibilität, kann eine Therapie bei einem Therapeuten oder einem speziellen Arzt notwendig sein!
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